Cover
Titel
Polygamous Ways of Life Past and Present in Africa and Europe. Polygame Lebensweisen in Vergangenheit und Gegenwart in Afrika und Europa


Herausgeber
Kah, Henry Kam; Lundt, Bea
Reihe
Narrating (Hi)stories. Kultur und Geschichte in Afrika / Culture and History in Africa 6
Erschienen
Wien 2020: LIT Verlag
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yagmur Karakis, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der Band bündelt insgesamt 18 Beiträge zu Geschichte und Gegenwart der Polygamie auf dem afrikanischen und europäischen Kontinent, deren Autor:innen aus beiden besprochenen Räumen stammen. Die räumliche Differenzierung spiegelt sich auch in der Gliederung des Bandes in zwei Teile wider, in denen sich wechselnd deutsche und englische Beiträge finden. Im ersten Teil des Bandes führen sechs Beiträge die Leser:innen chronologisch durch die Geschichte polygamer Lebensweisen in Europa von der Antike bis in die deutsche Gegenwart. Der zweite Teil des Bandes, der sich mit Polygamie in Afrika beschäftigt, ist in vier Teilbereiche gegliedert. Schwerpunkte bilden hier der Einfluss der christlichen Mission und der Kirche auf polygame Lebensweisen, literarische Repräsentationsformen, die Tradition der Polygamie zwischen ökonomischem Wandel und Machtstrukturen sowie die Auswirkungen gesellschaftlichen Wandels auf polygame Lebensweisen in Vergangenheit und Gegenwart.

Obwohl schon im Titel von „polygamen“ Lebensweisen die Rede ist, handeln die Texte lediglich von der Polygynie, der Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen. Diese begriffliche Unterscheidung wird zwar im Text thematisiert, aber auch dieser Band weicht nicht von der üblichen Praxis ab, Polygynie zu meinen, aber von Polygamie zu sprechen.1 Eine zufriedenstellende Begründung für diese Handhabung erhalten die Leser:innen nicht, lediglich wird darauf verwiesen, dass Polygynie die am häufigsten auftretende Form der Polygamie sei (S. 9f.). Eingehendere Betrachtungen der Polyandrie, der Ehe einer Frau mit mehreren Männern, bleiben damit ein Forschungsdesiderat. Nichtsdestotrotz ist auch Polygynie ein gesellschaftlich relevantes Thema. Die interdisziplinäre, interepochale und interkontinentale Beschäftigung mit polygynen Familien- bzw. Lebensmodellen sensibilisiert für die Abhängigkeit ihrer negativen Wahrnehmung in der christlich-europäischen Welt von dem Dogma des christlich-abendländischen monogamen Familienmodells.

Dass dieses Modell nicht immer der realen Lebensweise der Menschen in Europa entsprach und immer wieder verhandelt werden musste, stellen die Beiträge der Historiker:innen Elke Hartmann, Jan Rüdiger und Claudia Opitz-Belakhal deutlich dar. Hartmann ordnet das aus dem 19. Jahrhundert stammende, bis heute fortbestehende bürgerliche Familienideal in Europa in antike Ordnungskonzepte ein. Einen interessanten Denkanstoß gibt Rüdiger mit Bezug auf die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen (UN). In Artikel 16 der Charta sei zwar nicht explizit die monogame Ehe geschützt, aber durch das gleiche Recht für Frauen und Männer könne dieser Artikel als Schutz des monogamen Ehemodells gelesen werden, zumal UN-Institutionen wie The Committee on the Elimination of Discrimination against Women (CEDAW) deklarierten, dass die polygame Ehe das Recht von Frauen auf Gleichberechtigung konterkariere (S. 42). Den Ursprung dieses westlichen Denk- und Ehemodells macht Rüdiger im christlichen Hochmittelalter aus: Bis dahin hätten sich Gesellschaften des Westens an die interkulturelle Norm der Polygynie gehalten. Der Strukturwandel habe der sehr alten ideologischen Voreingenommenheit von Intellektuellen zugunsten der Monogamie im 13. Jahrhundert schließlich zur gesellschaftlichen Hegemonie verholfen. Der westliche Monogamismus in Verbindung mit dem Ideal der Liebesheirat sei inzwischen zu einem wichtigen Element von Kultur und Identität geworden, das Debatten des 20. und 21. Jahrhunderts mit einem starken Apriorismus in ihren Höhepunkten präge (S. 63). Ein Moment des Wankens im christlich-europäischen Dogma des Monogamismus untersucht Opitz-Belakhal anhand von Montesquieus Hauptwerken. In der Aufklärung wurden kirchliche Ehe- und Moraltraditionen infrage gestellt, aber diese Kritik führte lediglich zu einer toleranteren Einstellung gegenüber der Ehescheidung. In die aufklärerische Debatte über die Ehe, gerahmt als christliche Institution, fand schließlich die „Verurteilung muslimisch-polygamer Ehepraktiken“ (S. 60) Eingang. In den Perserbriefen formulierte Montesquieu die Polygamie als (männlich-orientalische) Despotie (S. 70). So setzte sich in der Debatte des säkularen Europas die zuvor religiös begründete Einehe bei Montesquieu mit „rationalen“ Argumenten wie Gleichberechtigung der Geschlechter als Ideal fort.

Aber auch die gegenwärtige monogame Losung vieler christlicher bzw. europäischer Gesellschaften wird von Bea Lundt gemeinsam mit ihren Interview-Partner:innen von der University of Education Winneba (Ghana) kritisch unter die Lupe genommen. Auf die Frage, wie aus ihrer Sicht die Polygamie von Europäer:innen wahrgenommen würde, antworteten die meisten, dass Europäer:innen eine inkonsequente Monogamie lebten, die mit Heimlichkeiten und Lügen einhergehe. Das moralische Herabblicken auf polygyn lebende Afrikaner:innen sei daher unberechtigt.

Die Autor:innen des zweiten Teils scheinen sich darüber einig zu sein, dass Polygynie in Afrika allgemein positiv wahrgenommen werde. Den Einfluss der christlichen Missionen, die den Autor:innen zufolge von Beginn ihrer Tätigkeit an die Polygamie in Afrika bekämpften, bringt Simon Kofi Appiah aufschlussreich auf den Punkt: „Colonial and missionary interventions produced a certain resilience in African Christians. Today, this resilience is experienced as Christian resurgence in what has been called African reformation. Post-Colonial African Christianity is flourishing as a pluralist Christianity in a plural religious situation.” (S. 163)

Eine große Lücke des Bandes – weibliche Perspektiven auf polygyne Lebensweisen – schließen zumindest teilweise die Afrikanist:innen Umma Aliyu Musa und Uta Reuster-Jahn. Den literarischen Repräsentationsformen der Polygamie in Tansania widmet sich Reuster-Jahn komparativ-analytisch. Ihre Analyse von vier Swahili-Texten, die sowohl von weiblichen als auch männlichen Autor:innen stammen, weisen mehr negative als positive Bezüge zur Polygynie auf. Vor allem literarische Texte handelten, so Reuster-Jahn, häufig von den Problemen der Polygynie, die mindestens bei einer der Frauen aufgrund von Ungleichbehandlungen und dem Gefühl, von dem Ehemann zurückgesetzt zu werden, sogar bis zum Tod führten.

Aliyu Musa befasst sich mit drei Novellen über Polygynie in Nigeria, zwei davon von Frauen verfasst. Sie begründet ihre Auswahl damit, dass die Texte typische Polygynie-Settings darstellten. Sie handelten alle drei von weiblicher Eifersucht als Problem. Diese Eifersucht basiere jedoch weniger auf einer Konkurrenz um die Liebe oder Aufmerksamkeit des Mannes, sondern beziehe sich auf die Erbschaft. Alle drei Novellen wiesen starke Parallelen auf: Die Polygynie würde einheitlich akzeptiert, obwohl gleichzeitig durch die angesprochenen Probleme ein schräges Bild derselben gezeichnet würde. Die Entscheidung zur Polygynie und die Scheidung einzelner Ehen in den Erzählungen liege in der Hand des Mannes, dessen Handlungen jedoch weder von den Autorinnen noch von dem einzigen von ihr untersuchten Autor als Ursache der Probleme in der Polygynie gesehen werde.

Schließlich gehen die Autor:innen der letzten beiden Teilbereiche auf die verschiedenen Facetten und Formen der Polygynie bei regionalen Gruppen in Ghana, Kamerun und Kenia ein. Einigkeit besteht in Bezug auf alle Regionen darin, dass sich verschiedene Faktoren wie kulturelle, ökonomische, ethische, religiöse, politische, offizielle und praktische Gründe überlapp(t)en. Die Konsequenz dieser Analyse wird gelungen in den letzten Artikeln erörtert, die sich mit dem Wandel der Polygynie in der Vergangenheit und in der Gegenwart sowie ihren Zukunftsprognosen auseinandersetzen. Dass das von den im Band angesprochenen Gruppen favorisierte Modell der Polygynie wandelbar ist, zeigt das Beispiel von Mwangi J. Macharia: In Kenia habe sich nach dem Einzug des monogamen Ehemodells durch die Christianisierung in den letzten 50 Jahren das Modell mpango wa kando etabliert, das in etwa mit „einer Geliebten außerhalb der Ehe“ übersetzt werden kann.

Die zeitliche und räumliche Verteilung der Beiträge in den beiden Teilen eröffnet einige Fragen. Die Beiträge im ersten Teil verwenden immer Schriftquellen, darunter überwiegend amtliche Dokumente, und finden so aufgrund der schriftlichen Tradierung von historischem Wissen in Europa keinen Zugang zur realen Praxis von Beziehungsmodellen und beziehen auch keine regional- oder gruppenspezifische Anwendung ein. Dagegen reichen die Betrachtungen der polygynen Lebensweisen im afrikanischen Kontext lediglich bis ins 19. Jahrhundert und die Zeit davor wird fast immer pauschal als „Pre-Kolonialzeit“ zusammengefasst. Auch fehlen Beispiele aus dem Norden und Süden des Kontinents, weswegen das Sprechen von „Polygynie in Afrika“ problematisch ist. Alles in einem ermöglicht die Komposition der Beiträge trotzdem einen guten Einblick in die verschiedenen Ausformungen und Begründungen der Polygynie, historisch wie aktuell, und schafft Verständnis.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Forschungsliteratur und Medien, zum Beispiel John Witte Jr., In The Western Case for Monogamy over Polygamy, Cambridge 2015, oder Angelika Eck, Polygamie. Ich habe seit vier Jahren zwei Beziehungen, wie soll das weitergehen?, in: ZEIT Magazin, 29.04.2021, https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2021-04/polygamie-beziehung-ehe-sexualitaet-liebe-geheimnis (17.05.2021).